Die Redewendung von den Zwergen auf den Schultern von Riesen (oder Giganten; lateinische Phrase Nanos gigantum humeris insidentes, „Zwerge auf den Schultern von Riesen sitzend“) ist eine Metapher, das Verhältnis der jeweils aktuellen Wissenschaft und Kultur zu Tradition und den Leistungen früherer Generationen darzustellen. Aus der Sicht traditionsbewusster Gelehrter erscheinen deren Vorgänger in vergangenen Epochen als Riesen und sie selbst als Zwerge, die von den Pionierleistungen der Vergangenheit profitieren: Indem sie dem vorgefundenen Wissensschatz ihren eigenen bescheidenen Beitrag hinzufügen, kommt Fortschritt zustande.

Herkunft

Bezeugt ist die Metapher erstmals bei Bernhard von Chartres um 1120. Johannes von Salisbury zitiert Bernhard in seinem um 1159 beendeten Werk Metalogicon:

Auch Wilhelm von Conches, ein Schüler Bernhards, überliefert und erläutert die Metapher in seinen vor 1123 entstandenen Glossen zu den Institutiones grammaticae des antiken Grammatikers Priscian, allerdings ohne Bernhard als Urheber zu nennen. Den Anstoß zu dem Gedanken hatte eine Bemerkung Priscians geboten, der schrieb, die Autoren auf dem Gebiet der Grammatik seien „je jünger (später), desto scharfsinniger“ (Cuius auctores quanto sunt iuniores, tanto perspicaciores). Das Bild von den Riesen und den Zwergen scheint auf eine Stelle in den Metamorphosen des antiken Dichters Ovid zurückzugehen, wo dem Philosophen Pythagoras die Behauptung in den Mund gelegt wird, er betrachte die vernunftlose Menschheit von den Schultern des mythischen Riesen Atlas aus.

Mit den Riesen meinte Bernhard die Gelehrten der Antike. Er wollte damit einerseits seine tiefe Bewunderung für die Leistungen dieser Vorbilder ausdrücken, andererseits aber auch auf bescheidene Art seine Überzeugung zur Geltung bringen, dass es tatsächlich einen historischen Erkenntnisfortschritt gibt, durch den die Gegenwart der Vergangenheit überlegen ist (was damals nicht selbstverständlich war).

Visuell umgesetzt erscheint das Gleichnis erstmals in der Südrose der Kathedrale von Chartres, indem vier alttestamentliche Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel) als Riesen erscheinen, auf deren Schultern die in deutlich kleinerem Maßstab wiedergegebenen vier Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) sitzen.

Wirkungsgeschichte

Ab dem 13. Jahrhundert verbreitete sich das Gleichnis bei jüdischen Exegeten, nachdem es Jesaja von Trani als erster aus einer christlichen Quelle übernommen hatte.

Didacus Stella griff das Zitat im 16. Jahrhundert in einem Werk über den Evangelisten Lukas auf: Pigmaei gigantum humeris impositi plusquam ipsi gigantes vident (Auf die Schultern von Riesen gestellte Pygmäen sehen mehr als die Riesen selbst).

Im 17. Jahrhundert zitierte Robert Burton Didacus Stella:

Auch der Dichter George Herbert zitierte 1640 den Spruch in seinem Werk Jacula prudentum.

Isaac Newton verwendete die Metapher ebenfalls:

1772 griff Johann Gottfried von Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache auf die Metapher zurück:

Der Soziologe Robert K. Merton griff das Gleichnis in seinem Buch On the Shoulders of Giants 1965 auf. In dem populären Klassiker der Wissenssoziologie verfolgt er das Zitat zu seinem Ursprung zurück. In seinem Essay geht es ironischerweise u. a. um die soziale Konstruktion von „Wissen“.

Umberto Eco lässt im Roman Der Name der Rose seinen Haupthelden William von Baskerville das Riesen-Gleichnis vortragen (erstes Gespräch mit Bruder Nicolas). Am Ende des Romans wandelt William jedoch resignierend ein Zitat von Ludwig Wittgenstein ab, das die Riesen nur als zeitweilig wertvoll erscheinen lässt:

Horst Poller schreibt in seiner Vorbemerkung zu seiner Philosophiegeschichte unter anderem:

Ernst Axel Knauf spielt auf das Gleichnis an, wenn er im Blick auf den Umgang mit bestimmten Problemen zu unterschiedlichen Zeiten in der Erforschung des Alten Testaments meint:

Eric Steven Raymond überträgt das Gleichnis auf die Hackerkultur:

Steven Pinker erklärt den materiellen und Wissens-Fortschritt mit diesem Prinzip:

Bei dem mennonitischen Theologen Kurt Kerber klingt das Gleichnis an, wenn er im Blick auf das Verhältnis der Generationen zueinander schreibt:

Peter Zimmerling erläutert die Beziehungen der verschiedenen Texte in den Losungen aus Altem Testament, Neuem Testament und sog. Dritttexten aus Gesangbuchliedern oder anderen, neueren Texten zueinander. Hierbei nimmt er auch auf das Gleichnis Bezug:

Mit einem deutlichen Anklang an das Gleichnis resümiert Markus Friedrich:

Hal Abelson, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wird eine Umkehrung des Gleichnisses zugeschrieben. Sie drückt auf amüsante Weise aus, dass Wissen und Wissenschaft auch immer wieder hinterfragt werden müssen, um wissenschaftliches Neuland betreten zu können und Dogmen zu vermeiden:

Die britische Rockband Oasis benannte im Jahr 2000 ein Album Standing on the Shoulder of Giants. Dieser Ausspruch ist ebenfalls in den Rand der englischen 2-Pfund-Münze eingraviert. Google Scholar, eine spezielle Suchmaschine für wissenschaftliche Publikationen, zitiert den Spruch „Auf den Schultern von Riesen“ auf ihrer Startseite.

Die unterschiedlichen Verwendungen des Gleichnisses hängen meist mit unterschiedlichen Bewertungen des Verhältnisses zwischen Wissenstraditionen zusammen. Die Aussage kann daran erinnern, dass wissenschaftliche Forschung nie geschichtslos entsteht, sondern immer vor dem Hintergrund frei verfügbaren Wissens. Dies wird auch als „Wissenskommunismus der Wissenschaften“ bezeichnet. In diesem Prozess wird festgehalten und dokumentiert, welche Ideen von welchen „Giganten“ stammen und welche neu sind (Ideengeschichte). Damit wird die Entstehung von neuem Wissen transparent, nachvollziehbar und kritisierbar.

Literatur

  • Walter Haug: Die Zwerge auf den Schultern von Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen. In: Walter Haug: Strukturen als Schlüssel zur Welt. De Gruyter, Tübingen 1989, S. 86–109.
  • Edouard Jeauneau: Nains et géants. In: Maurice de Gandillac, Edouard Jeauneau (Hrsg.): Entretiens sur la renaissance du 12e siècle. Paris 1968, S. 21–38.
  • Tobias Leuker: „Zwerge auf den Schultern von Riesen“. Zur Entstehung des berühmten Vergleichs. In: Mittellateinisches Jahrbuch. Band 32, 1997, S. 71–76.
  • Hillel Levine: Dwarfs on the Shoulders of Giants. A Case Study in the Impact of Modernization on the Social Epistemology of Judaism. In: Jewish Social Studies. Band 40, 1978, S. 63–72.
  • Robert K. Merton: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. (On the Shoulders of Giants. A Shandean Postscript. 1965). Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Syndikat, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-8108-0128-3.
  • Johannes Steudel: Zwerg auf der Schulter des Riesen. In: Sudhoffs Archiv. Band 37, 1953, S. 394–399.
  • Albert Zimmermann: „Antiqui“ und „Moderni“. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter. De Gruyter, Berlin 1974.

Anmerkungen


(PDF) Zwerge auf den Schultern von Riesen

Auf den Schultern von Riesen Evangelische Kirche Wien

Diözesanmuseum Paderborn Wie Zwerge auf den Schultern von Riesen

Von Riesen zu Zwergen Die faszinierende Welt der Inselverzwergung

Auf den Schultern von Riesen Connection