Hagenbecks Völkerschau der „Lappländer“ 1875 war eine Völkerschau (im heutigen Sprachgebrauch auch Menschenzoo), bei der sechs Samen (damals meist noch „Lappländer“ genannt) zusammen mit 31 Rentieren zwischen dem 12. September und dem 21. November 1875 zuerst im damaligen Tierpark Hagenbeck am Neuen Pferdemarkt in Hamburg St. Pauli und anschließend auf der Hasenheide in Berlin-Neukölln sowie im Pfaffendorfer Hof in Leipzig zur Schau gestellt wurden. Zur Gruppe der Samen zählten ein Ehepaar mit einem Kleinkind und einem Säugling sowie ein Vater mit seinem Sohn.
Veranstalter dieser Völkerschau war Carl Hagenbeck (1844–1913) aus Hamburg, der bis zu seinem Tod über 50 solcher „Völkerausstellungen“ veranstaltete und hunderttausende zahlende Besucher anlockte. Die Völkerschau der „Lappländer“ 1875 war seine erste Völkerschau, die in der Forschung deshalb als Initialzündung zur Etablierung des Ausstellungstyps der Völkerschauen gilt.
Vorgeschichte
Der Tierhändler Carl Hagenbeck hatte im März 1874 seinen ersten Tierpark in St. Pauli eröffnet und berichtete im Vorfeld der ersten Menschenausstellung über den stagnierenden Tierhandel und finanzielle Schwierigkeiten auch infolge der Gründerkrise. Die Idee zur ersten „Völkerausstellung“ (wie Hagenbeck seine Völkerschauen damals selbst bezeichnete) lieferte ihm der befreundete Tiermaler Heinrich Leutemann aus Leipzig. Hagenbeck hatte ihm über eine bevorstehende Rentierlieferung berichtet. In seinen Memoiren schrieb Leutemann 1887:
Die 12 Jahre nach den Ereignissen verfassten Schilderungen Leutemanns sind nicht ganz plausibel, denn bereits am 5. Januar 1875 hatte das Leipziger Tageblatt und Anzeiger berichtet:
Offenbar hat sich dann die Vorbereitung der Menschenschau aber noch über mehrere Monate hingezogen. Über die Umstände der Anwerbung der Gruppe, die im September 1875 in Hamburg eintraf, ist wenig bekannt. Hagenbeck berichtete in seinen Memoiren Von Tieren und Menschen von 1908 von seiner ersten Begegnung mit der Gruppe:
Die sechs Samen waren Ella Maria Josefsdatter Nutti (1841–1930), ihr Ehemann Nils Rasmus Persson Eira (1841–1930), die dreijährige Tochter Kristina und der Säugling Per Bernhard, wobei die Familie in den deutschsprachigen Überlieferung oft Rasti (eine samische Form von Rasmus) genannt wurde. Die zwei weiteren Männer waren Lars Nilsson Hotti und sein Sohn Jacob Larsson Hotti (im September 1875 waren sie 45 und 21 Jahre alt). Die Gruppe stammte aus Karesuando, einer kleinen Ortschaft in der heutigen nordschwedischen Provinz Norrbottens län und der historischen Provinz Lappland. Die Samen (Plural auch Sami, veraltet Lappen oder Lappländer) sind ein indigenes Volk, das im nördlichen Skandinavien, Finnland und auf der Kola-Halbinsel in Russland lebt. Der Agent, der die Gruppe in Nordschweden angeworben hatte, war laut Leutemann der norwegische Fotograf und Händler Johan Erik Wickström aus Tromsø, der norwegisch und samisch sprach und somit als Dolmetscher auftrat. Sonst gibt es nur wenige Überlieferungen zu den Samen und auch nur ein Foto, auf dem nur einer der drei Männer und eine weitere Person im Hintergrund zu sehen sind.
Verlauf
Die Völkerschau begann in Hamburg am 12. September 1875. Am Vortag, dem 11. September nachmittags, wurden die Rentiere vom Hafen zum Neuen Pferdemarkt in St. Pauli geführt, was sich laut den Schilderungen von Leutemann in seinem Artikel in Die Gartenlaube von Anfang November 1875 als schwierig herausstellte:
Allerdings trug dieses Spektakel auch dazu bei, dass den Samen in Hamburg große Aufmerksamkeit zuteilwurde. Hagenbeck berichtete in der zweiten Auflage seiner Memoiren Von Tieren und Menschen von 1909 über den für ihn überraschenden Erfolg der Schau:
Die Völkerschau fand im hinteren Teil des Tierparks Hagenbeck statt. Laut Pressemitteilungen sollen am Sonntag, dem 19. September, als Polizeikräfte einschreiten mussten, „5490 Erwachsene und 1150 Kinder Entrée gezahlt“ haben. In Hamburg trat die Gruppe neben dem Tierpark Hagenbeck in St. Pauli auch im Vergnügungspark „Nordpoltheater“ auf. Ab Anfang Oktober wurde sie dann auf der Hasenheide in Berlin-Neukölln platziert. Doch hier blieb der Erfolg aus, auch weil Hagenbeck keine Kontakte zur Berliner Presse und nur wenige Anzeigen in der Zeitung geschaltet hatte. Der Anatom und Anthropologe Rudolf Virchow nahm in Berlin Untersuchungen an den Samen vor und präsentierte seine Ergebnisse in der Sitzung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte am 16. Oktober. Die gesamte Gruppe war dabei anwesend. Letzte und dritte Station der Völkerschau war Leipzig. Ab dem 2. November 1875 wurde die Gruppe im Innenhof des Pfaffendorfer Hofs in Leipzig gezeigt. Aufgrund der zahlreichen Presseberichte Leutemanns war die Schau in Leipzig wieder erfolgreich.
Die Inszenierung der Schau beschränkte sich hauptsächlich auf das Alltagsleben, insbesondere das Hüten und die Versorgung der Rentiere und das Leben in den mitgebrachten Zelten. Leutemann verfasste im November 1875 einige Artikel für das Leipziger Tageblatt und Anzeiger, in denen er die Völkerschau zu bewerben versuchte:
Heinrich Leutemann schildert zum Ende der Tournee am 21. November 1875 aber auch, dass vor allem die Frau und Mutter die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen und auch Geschenke von den Besuchern erhalten habe:
Anders als beispielsweise während der späteren Völkerschau der „Feuerländer“, bei der die Presse stark abschätzig über die Kawesqar als vermeintliche Kannibalen berichtete, war die Berichterstattung gegenüber den Samen eher wohlwollend. Die damals so bezeichneten „Menschen aus dem hohen Norden“ wurden zeitgenössisch einer hohen Kulturstufe zugeordnet.
Viele Fragen bezüglich der Gruppe der Samen, ihrer Unterbringung und Verpflegung, der Bezahlung und Rückkehr nach Schweden sind nur ansatzweise überliefert. Leutemann berichtete am 21. November über die Heimreise der Gruppe und „große Sehnsucht nach ihrer Heimath“, die von der Gruppe vorgetragen wurde. Die Rentier-Herde verblieb in Deutschland und wurde verkauft. Hagenbeck vermachte dem Leipziger Museum für Völkerkunde zahlreiche Ausrüstungsgegenstände der Samen.
Rezeption
Datierung der ersten Völkerschau: 1874 oder 1875
Häufig wird die erste Völkerschau Hagenbecks auf das Jahr 1874 datiert. So erschienen im März 2024 Zeitungsberichte, in denen an den vermeintlichen 150. Jahrestag des Beginns der Völkerschauen erinnert wurde. Auch in der Forschungsliteratur findet sich meist die Jahresangabe 1874. So schrieben beispielsweise Nicolas Bancel, Pascal Blanchard und Sandrine Lemaire in ihrem Standardwerk MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit in deutscher Übersetzung von 2012: „Die erste Truppe dieser Art wurde von Carl Hagenbeck im Jahr 1874 in Hamburg gezeigt, also genau in jenem Jahr, in dem Barnum nach Europa kam. Das Jahr 1874 stellte daher einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung von Menschenausstellungen dar.“ Die Jahreszahl 1874 für die erste Hagenbecksch’sche Völkerschau der „Lappländer“ findet sich auch in den Standardwerken von Anne Dreesbach und Stefanie Wolter (beide von 2005) sowie mit der Angabe „1874/75“ bei Hilke Thode-Arora in Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen von 1989. In einem Aufsatz von 2021 schreibt Thode-Arora dann aber, Hagenbeck habe „1875 seine erste Völkerschau: Sami aus Finnland“ veranstaltet.
Die Datierung 1874 gründet sich vor allem auf die Memoirenliteratur Hagenbecks, der in Von Tieren und Menschen von 1908 schrieb: „Gegen Mitte September des Jahres 1874 traf die kleine Expedition mit dreißig Rentieren, geführt von einem Deutsch sprechenden Norweger, in Hamburg ein.“ In seinen bereits 1887 erschienenen Memoiren Lebensbeschreibung des Thierhändlers Carl Hagenbeck nennt Heinrich Leutemann hingegen in den bis ins Detail sehr ähnlichen Schilderungen den September 1875 als Zeitpunkt der ersten „Lappländer“-Völkerschau.
In der bisher umfassendsten Darstellung über die von Carl Hagenbeck veranstalteten Sami-Völkerschauen von Cathrine Baglo aus dem Jahr 2023 wird der September 1875 als Beginn der ersten Völkerschau zutreffend angegeben, außerdem auch im Standardwerk Savages and Beasts von Nigel Rothfels. Alle zeitgenössischen Berichte – etwa über die Ankunft in Hamburg am 11. September 1875, bei der die Rentiere durch die Stadt getrieben wurden, Zeitungsinserate, die zahlreichen Artikel Leutemanns wie etwa der lange Artikel in Die Gartenlaube von Anfang November 1875, im Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 30. Oktober 1875 „Ueber die ankommenden Lappländer“ oder vom 21. November 1875 über „Die Heimkehr der Lappländer“ sowie auch die Präsentation der sechsköpfigen Gruppe der Samen von Rudolf Virchow vor der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte am 16. Oktober 1875 und der Bericht hierüber in der Kölnischen Zeitung – sprechen für den 12. September bis 21. November 1875 als Zeitraum der ersten Völkerschau Carl Hagenbecks; der 150. Jahrestag ist dann der 12. September 2025.
„Erfindung“ der Völkerschau?
Hagenbeck hat sich 1908 quasi als Erfinder der Völkerschauen stilisiert: „Es war mir vergönnt, die Völkerausstellungen als erster in die zivilisierte Welt einzuführen“. Die Zurschaustellung von Menschen reicht weit in die Vergangenheit zurück. Dennoch wird in der Forschung das Format Völkerschau tatsächlich Hagenbeck zugeschrieben. Hagenbecks Inszenierungen indigener Menschen galten erstens insofern als fortschrittlich, als er „die ‚Wilden‘ aus den Jahrmarktsbuden in die wissenschaftlichen Institutionen ‚Zoologische Gärten‘“ holte. Zweitens spielte – und das macht die Völkerschau von 1875 deutlich – der Anspruch Hagenbecks nach hoher Authentizität eine besondere Rolle für den Erfolg seiner Schauen. Stefanie Wolter sieht hier den Schlüssel zur Erklärung des unerwarteten Erfolgs der ersten Völkerschau der Lappländer. Zur gleichen Zeit tourte bereits eine andere Gruppe von Samen von A. Böhle und Emma Willardt durch Deutschland, die allerdings als Eskimos vermarktet worden seien. Die Samen seien zwar echt, die Schau aber deshalb nicht als authentisch wahrgenommen worden. Im oben bereits zitierten Artikel des Leipziger Tageblatts vom 5. Januar 1875 hieß es:
Im Gegensatz dazu hätten die Zuschauer die erste Völkerschau Hagenbecks als authentisches Abbild des Alltags der Menschen aufgefasst, wie sich aus zahlreichen Berichten herauslesen lasse. Nach dem finanziellen Erfolg der Hamburger Schau wird Hagenbeck das Zitat „Das Geld liegt doch auf der Straße, man muss es nur aufzuheben wissen“ zugeschrieben. Bis zu seinem Tod führte er noch über 40 Schauen durch, diese wurden ab Ende der 1870er Jahre zur Haupteinnahmequelle.
Literatur
- Cathrine Baglo: Samische Perspektiven auf Carl Hagenbecks „anthropologisch-zoologische Ausstellungen“. In: Anna Sophie Laug (Hg.): Das Land spricht. Sámi Horizonte. Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt, Hamburg 2023, ISBN 978-3-944193-24-3, S. 54–93.
- Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-593-37732-2.
- Haug von Kuenheim: Carl Hagenbeck. Ellert & Richter, Hamburg 2007, ISBN 978-3-8319-0182-1.
- Nigel Rothfels: Savages and Beasts. The Birth of modern Zoo. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2025 (Revised Edition), ISBN 978-1-4214-5088-9.
- Hilke Thode-Arora: Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-593-34071-2.
- Hilke Thode-Arora: Herbeigeholte Ferne: Völkerschauen in Deutschland – eine Einführung. In: Lars Frühsorge, Sonja Riehn, Michael Schütte (Hg.): Völkerschau-Objekte. Lübeck 2021, S. 3–20, ISBN 978-3-942310-34-5.
- Stefanie Wolter: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfängen des Massenkonsums. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-593-37850-3.
Zeitgenössische Literatur
- Carl Hagenbeck: Von Tieren und Menschen. Vita deutsches Verlagshaus, Berlin, 1. Auflage 1908, 2. Auflage 1909.
- Heinrich Leutemann: Lebensbeschreibung des Thierhändlers Carl Hagenbeck. Selbstverlag Carl Hagenbeck, Hamburg 1887.
- Rudolf Virchow: Vorstellung der von Hrn. Hagenbeck nach Berlin gebrachten Lappen. (Sitzung vom 16. Oktober 1875). In: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Jg. 1875, S. 225–228.
Weblinks
Einzelnachweise




